Hier kannst du dir den StrassenSONG anhören:
Günter (62) hat sechs Jahre im Hamburger Hafen „Platte“ gemacht. Er hat sich als Tagelöhner auf St. Pauli herumgeschlagen. Günter hatte ´ne schlimme Kindheit – beide Eltern starke Alkoholiker. Der Vater hat die Mutter alkoholisiert im Streit tödlich verletzt. Jetzt hat Günter Prostatakrebs und eine chronische Lungenerkrankung und nicht mehr lange zu leben. Sein letzter großer Lebenstraum: Einmal auf der Bühne zu stehen und vor Publikum zu singen. Wir wollen das StrassenTALENT von Günter fördern und haben deswegen den StrassenSONG „Mein St. Pauli“ mit ihm aufgenommen – darin singt er: „Wenn ich sterbe, begrabt mich auf St. Pauli“.
Was war als Teenager Deine Lieblingsmusik?
Rock´n´Roll – Elvis. Ich war so angezogen wie Elvis und habe mir sogar die Haare gefärbt wie er und hatte Koteletten. Ich wollte morgens zur Arbeit, habe mich um 6 Uhr fertiggemacht und dann hörte ich das Elvis verstorben ist. Dann bin ich gleich in mein Zimmer, Cola-Rum, die Birne voll – drei Tage war ich weg. Aber meinen Chef habe ich noch angerufen. Ich habe ihm gesagt, dass ich Elvis-Fan bin – und er hat mich behalten.
Wie alt warst Du da?
Damals war ich 18. Meine erste Freundin, Petra König, die ich in Bad Schwartau kennengelernt habe – sie war meine echt große Liebe, wir wollten heiraten. Verlobt hatten wir uns ja schon zum Nikolaustag. Aber… wie soll ich das sagen… es hat nicht geklappt. Ich bin heute noch bestürzt darüber, wie das passieren konnte. Petra und ihre Cousine hatten sich eine Wohnung angemietet. Wir wurden alle eingeladen zu einer Wohnungsparty. Ich habe mit Kollegen auf der Party in einem Raum nebenan getrunken. Dann bin ich wiedergekommen und dann hing sie da – mit einer Nadel im Arm. Überdosis. Ich habe mich schuldig gefühlt, dass musst Du Dir vorstellen. Ich habe die scheiß Schuld gekriegt. Ihre Eltern, die mich hoch angesehen haben – ich habe von ihrem Vater am Nikolaustag sogar 50 Mark gekriegt – und jetzt ist sie tot! Nur weil ich nicht da war, weil ich mich mit Kollegen unterhalten habe.
Und Du wusstest, dass sie heroinsüchtig war?
Überhaupt nicht. Sie war gar nicht süchtig! Sie hat noch nicht mal was getrunken. Gar nichts. Sie ist verführt worden.
Weißt Du, von wem sie verführt wurde?
Von der Freundin ihrer Cousine. Ich habe ja auch früher mal einen Joint geraucht. Wer hat das denn nicht gemacht…
Was hat der Tod von Petra mit Dir gemacht?
Ich war völlig kaputt. Ich konnte es einfach nicht glauben. Es war alles so leer im Kopf. Es ist ja in Bad Schwartau passiert. Stockelsdorf. Ich hatte mir damals beinahe die Birne kaputt gesoffen. Und seitdem ich nicht mehr trinke, kommen die Erinnerungen von damals nach und nach zurück.
Seit wann trinkst Du nicht mehr?
Seit 1991. Ich war ja mit Hannelore 18 Jahre verheiratet. Habe sie gefragt, ob ich mir ihren Namen als Tattoo auf den Arm stechen darf. Hannelore ist dann 2003 an Zungenkrebs gestorben. Kurz vor Heiligabend. Und ich werde ähnlich hinterhergehen. Das ist bitter.
Was war zu dieser Zeit in Deinem Leben los?
Ich bin mit 17 in ein Heim gekommen – Jugendaufbauwerk hat sich das genannt. Die Schwartauwerke waren gleich nebenan. Du musstest da hundert Meter rein in den Wald. Es war eine herrliche Gegend. Und es war ein riesiger Komplex. Da waren verschiedene Werkstätten drin für Ton, Holz und Metall. In Pinneberg bin ich irgendwann DJ geworden, also habe Platten aufgelegt und Parties veranstaltet. Ich habe mich immer für Musik interessiert. Ich habe Platten gekauft, habe Bänder aufgenommen und habe zu Hause ´ne echt geile Anlage gehabt. Ich habe um die 5.000 Singles damals gehabt.
Hast Du früher selbst Musik gemacht?
Ja, ich hatte eine Band, „Blues Imagination“. Ich habe auch Bass und ein wenig Schlagzeug gespielt. Aber seit meinem Schlaganfall 1989 geht nichts mehr. Einiges, wie mein Fuß, sind taub geblieben.
Hattet ihr damals auch Erfolge mit eurer Band?
Also eine Hütte war schon oft voll. Wir hatten in Rellingen auf ´nem Schützenfest gespielt und da war wirklich viel los. Das war ein riesiges Zelt mit 200 bis 300 Zuschauern. Der Komponist und Produzent Hans-Geog Moslener wollte uns damals unter seine Fittiche nehmen, aber dann ging die Band schon in Arsch. Weg, Aus, Ende, Zuckerlecken. Danach habe ich mit einem Kumpel ein Tonstudio eröffnet. Das war auch ein Reinfall von Schaffhausen.
Hast Du eigentlich Lampenfieber?
Früher schon. Das hat sich jetzt gelegt, seitdem ich beim Film gearbeitet habe. Du musst Dir das so vorstellen: Um Dich herum sind beim Dreh 60 Leute. Ein Team von Regisseur über Kameramann bis Beleuchter. Die horchen und gucken Dir zu. Und Du musst Deinen Text aufsagen. War anstrengend, aber auch sehr nett. Ich habe bei Minus 15 Grad gedreht, hier in der Grindelallee: „Kollaps“ und ich stand da nur mit einem T-Shirt und Weste.
Was für eine Kindheit hattest Du?
Es ist sehr sehr traurig, da meine Eltern beides Alkoholiker waren. Schwerstalkoholiker. Die haben sich um jeden Tropfen Alkohol gekloppt. Und ich mittendrin als 6-jähriger Bub. Mein Vater hat bei einer Tiefbaufirma gearbeitet. Sein Chef hieß Hundertmark – das weiß ich noch. Mein Vater hat immer Rum gesoffen – Sommer wie Winter. Und meine Mutter hätte eigentlich auf mich aufpassen sollen – aber sie hat sich stattdessen volllaufen lassen. Eines Tages haben sie sich wieder mal sehr gestritten – um den Schnaps. Und meine Mutter wollte vom Streit flüchten, die 20 Treppenstufen runter, mein Vater hinterher. Dann plötzlich gab´s einen Rumms, einen großen Aufschrei – und da lag meine Mutter mit dem Kopf neben dieser Eckkante. Dann kam der Arzt, hat sie notdürftig behandelt, am nächsten Morgen konnte sie nicht mehr sprechen, da ihr Gehirn beim Sturz verletzt wurde. Vom Krankenhaus kam meine Mutter dann in eine Nervenheilanstalt. Und da habe ich sie noch zweimal im Rollstuhl gesehen. Danach nie wieder. Mein Vater hat sich dann ganz schnell eine andere Frau genommen und mich wollte er ins Heim abschieben. Meine Oma hat mich dann erzogen – mit Zuckerbrot und Peitsche.
Was für ein Beruf ergreift ein Mensch, der so aufgewachsen ist?
Ich bin auf die Heinrich-Eckmann- Schule in Rellingen bei Pinneberg gegangen. Später hat mich ein Nachbar von mir, Uwe, zur Tankstelle in die Sierichstraße mitgenommen. Da sollte ich Tankwart lernen. Mein Trinkgeld war mehr, als ich verdient habe. Ich habe als Lohn die Woche 60 Mark gekriegt. Das ist nicht viel. Ich habe die Ausbildung nie abgeschlossen. Stattdessen war ich Gelegenheitsarbeiter. Bei Koch & Fischer in einer Blechwarenfabrik. Da habe ich Backwaren und Reiben hergestellt. Oder ich habe Schrauben sortiert und in einer Federkernfabrik gearbeitet. Als ich keinen Job mehr in Pinneberg bekommen habe, bin ich nach Hamburg gegangen. Dann habe ich im Hafen gearbeitet. Ich habe da in der Tankreinigung angefangen, später als Stückgutspezialist. Irgendwann war ich auch mal Türsteher – in der „Regina Bar“ auf dem Kiez.
Warst Du damals oft auf dem Kiez?
Ja, ich hab´ mich viel ´rumgetrieben. Mir lag das: Schanzenviertel und Kiez. Ich habe viele Leute kennengelernt. Ich habe die „Club GmbH“ kennengelernt. Kalle Schwensen. Habe ganze Nächte durchgeschwoft in der Ritze. Bei Mutti im Silbersack, die leider schon gestorben ist. St. Pauli ist gute Stimmung und das Laster… aber ohne Räder (lacht).
Was hast Du auf dem Kiez damals erlebt?
Ich habe damals viele Frauen auf dem Kiez kennengelernt und abgeschleppt. Auch auf dem Dom. Ich bin auch sehr oft zu Fußballspielen vom FC St. Pauli gegangen. Wir haben bei den Spielen immer schmutzige Lieder gesungen. Ich kann mich noch an ein Spiel gegen Hertha BSC erinnern. Durch das Spiel habe ich ein Mädchen aus Berlin kennengelernt. Aber nach dem Spieltag haben wir uns nie wieder gesehen… Kannst Du Dich noch erinnern an die WM 2006?
Ja klar.
Da war ich auf dem Kiez. Da habe ich dann doch wieder mit jedem einen gesoffen: Mit Menschen aus der ganzen Welt. Ich war im „Herzblut“ drin gewesen und es wurde immerzu gegröhlt. Während der WM haben in Hamburg die Frauen halbnackt herumgetanzt, das war wirklich schön. Hamburg ist die Hochburg der guten Laune.
Sind St. Pauli-Fans irgendwie anders, als andere Fans?
Ja, familiärer. Und irgendwie auch hilfsbereiter. Ich habe immer ein Tamburin – mit so Schellen dran – im Stadion gehabt und darauf gespielt. Wir haben uns mit der Musik immer in Stimmung gebracht.
Du bist irgendwann auf der Straße gelandet. Wie kam es dazu?
Meine Großmutter war gestorben, die mich alleine aufgezogen hatte. Die Wohnung, in der ich war, wurde gekündigt. Ich kann Dir nicht mehr genau sagen, wie es dazu kam. Ich weiß nur noch, dass ich meine Sachen packen musste und dann bin ich auf „Platte“ gegangen. Ich glaube, ich bin der Einzige von sehr Wenigen, der auf der Straße gelebt hat und dennoch einem Job nachging. Ich war damals Zeitarbeiter. 60 Mark am Tag.
Hättest Du durch Deinen Verdienst nicht eine eigene Wohnung bekommen können?
Wenn Du überlegst: Schließfach kostet Geld, trinken kostet Geld – ich war ja damals versoffen. Zudem war ich ganz alleine. Die Nächte waren kalt und ich habe gefroren, also musste ich etwas dagegen tun. Dann knallt man sich schon mal einen. Insgesamt war ich sechs Jahre auf der Straße.
Hattest Du Freunde auf der Straße?
Man hat keine Freunde auf der Straße. Man hat nur Bekannte – die einen vielleicht um das letzte Geld bringen: „Hast Du mal was?“ – ich habe so viel Geld verliehen. Und meist nicht wieder gekriegt.
Wie war denn Dein Tagesablauf als Obdachloser?
Unter der Woche bin ich morgens sehr früh um 3 Uhr aufgestanden. Ich habe oben an den Landungsbrücken, wo die U-Bahn abfährt, in der Ecke mit meinem Schlafsack gepennt. Im Sommer ist es da ja schön, aber lass es mal regnen – dann gute Nacht Marie. Ganz früh nach dem Aufstehen habe ich erst mal Alkohol getrunken und dann immer ein Pfefferminzbonbon genommen. Für meine tägliche Arbeit am Hafen habe ich einen Zehner bekommen, damit ich nicht mit Bus und Bahn Schwarz fahre. Die meisten der Arbeiter dort haben es trotzdem für einen Flachmann ausgegeben.
Hattest Du jemanden in der Familie, der gewusst hat, dass Du auf der Straße lebst?
Nein. Die haben alle an sich gedacht.
Hast Du denn einmal versucht bei Freunden und Bekannten Hilfe zu holen?
Ich bin mal bei der Tagesstätte gewesen. Die haben mir Hilfe angeboten und wollten mir eine Wohnung vermitteln. Aber ich habe denen gesagt: Wenn ich jetzt auf Wohnungssuche gehe, verliere ich meinen Job. Ich brauchte jeden Tag Arbeit. Und außerdem war ich ja zu der Zeit alkoholkrank und obdachlos. Und ein Vermieter nimmt keinen alkoholkranken Obdachlosen als Mieter.
Wie bist Du denn von der Straße runtergekommen?
Irgendwann war es mit der Arbeit zu Ende. Ich habe weniger Jobs gekriegt und bin im „Pik As“ gelandet. Und dann hat mich ein Kollege, Rolf Herbst, ins Seemannsheim mitgenommen. Ich hatte kein Seemannsbuch dabei, weil ich es verloren hatte. Brauchte auch keins. Letztlich habe ich zwei Jahre im Seemannsheim gewohnt. Danach bin ich ins „Ledigenheim“ nebenan gekommen und schließlich endlich wieder in eine eigene Wohnung.
Jetzt lebst Du wieder in einer Wohnung und hast auch seit elf Jahren eine Freundin. Zeit, um glücklich zu sein?
Schön wäre es. Ich habe Prostatakrebs. Wurde bei mir vor drei Jahren erkannt. Man kann diesen Krebs heilen, aber bei mir ist es dafür zu spät. Ich bekomme nun Hormonspritzen, damit der Krebs zumindest gestoppt wird. Der Arzt wollte mir nicht genau sagen, wie lange ich noch zu leben habe, aber Heilung ist nicht mehr …
Welche schönen Erinnerungen bleiben?
Meine Zeit als Schauspieler. Daran erinnere ich mich gerne. Ich habe mich damals beworben bei Dieter Wedels „König von St. Pauli“ mit Fotos von mir. Und wurde vom Fleck weg engagiert. Da war ich drei Tage am Set. Ebenso beim „Großstadtrevier“ und beim „Doppelten Einsatz“. Allerdings immer nur als Komparse, als „Bildhuscher“ (lacht). Beim Film „Gegengerade – Niemand siegt am Millerntor“ stand ich auf einmal vor Mario Adorf und habe ihn natürlich nach einem Autogramm gefragt und habe mit ihm nun ein schönes Erinnerungsfoto. Aber es gab für mich als Statist bei dem Film nur 20 Euro Gage am Tag.
Was wünschst Du Dir, was der Song „Mein St. Pauli“ bewirken soll?
Dass er den Leuten ins Herz geht. Und ja, ich würde wirklich gerne auf St. Pauli begraben werden. Buddelt mich unter´s Millerntor-Stadion (lacht).
© Interview: Nikolas Migut | Fotos & Foto Header: David Diwiak | Musik: Uli F.M. Weber, André Peters, Malte Moderegger
© Video – Redaktion, Schnitt: Nikolas Migut | Kamera: Christoph Böske | 2. Kamera: Linda Richter | Ton: Julia Bönisch | Produktion: 18frames