Ich bin Rosi, 63 Jahre alt, geboren in Regensburg. Aufgewachsen bin ich in Frankfurt, war verheiratet in Norddeutschland. Ich war fast 25 Jahre bei der Postbank in Frankfurt und Hamburg angestellt.
„Es ist nicht alles nur hoffnungslos. Das möchte ich den Menschen, die draußen sind, mitgeben.“
Warum ich auf der Straße gelandet bin? Es waren falsche Entscheidungen, der Verlust der Familie und der Existenz. Ich lebte viele Jahre in einer gut situierten Familie, war verheiratet mit dem Sohn des Vorstandsvorsitzenden einer großen deutschen Firma. Nachdem die Geschäftsführung des Unternehmens wechselte, verlor mein Mann seine Arbeit. Er machte sich selbstständig und ich gab meinen Beruf auf, um das Einzelhandelsgeschäft meines Mannes zu unterstützen. Nach kaum zwei Jahren war das Geschäft insolvent. Wir hatten nichts mehr und unsere Ehe zerbrach. Ich war seelisch am Ende und verbrachte deswegen viel Zeit in einer Klinik. Nach der Scheidung entschloss ich mich nach Frankfurt zurückzugehen, wo ich hoffte, von meiner Familie Halt zu bekommen. Eine Wohnung hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr. Mein Sohn war in Schleswig-Holstein geblieben. Er hatte dort ein kleines Fahrradgeschäft aufgebaut. Im August 2002 nahm sich mein Sohn aus Liebeskummer das Leben.
„Dieses Bild habe ich in Heilbronn aufgenommen: eine obdachlose, weinende Frau vor einer Kirchentür. Die Tür ist verschlossen. Sie findet keinen Einlass, nirgendwo. Diese Frau ist so klein und die Tür ist so groß.“
Nun wollte auch ich nicht weiterleben. Ich wurde hochgradig tablettensüchtig und suizidgefährdet. Ich weiß nicht mehr, wie oft man mir den Magen ausgepumpt hat. Wenn man mich nicht fand oder ich nicht um Hilfe rief, lag ich tagelang vergiftet irgendwo herum. Nachdem mein letztes Geld (eine Lebensversicherung, und das was mir mein Sohn hinterlassen hatte) aufgebraucht war, stand ich endgültig auf der Straße. Familie und Freunde hatten sich abgewendet. Wer will schon mit einem Menschen, der süchtig ist, etwas zu tun haben. Ich war völlig isoliert stand alleine auf der Welt. Ich reiste mit Schlafsack und Rucksack durch Deutschland – anscheinend war der Selbsterhaltungstrieb stärker als ich – auf der Suche nach einer Heimat. Ich übernachtete in Notunterkünften und im Freien.
In Bremen traf ich eine junge Frau, die mir riet, „geh doch nach Quickborn“. Gesagt, getan. Ich bin dieser jungen Frau für immer dankbar. Hier konnte ich zur Ruhe kommen und ein neues Leben beginnen. Nach zehn Jahren habe ich jetzt wieder eine eigene Wohnung und kann wieder arbeiten.
„Dieses Foto stammt aus Bremen. Ich lief ziellos durch die Stadt und stand auf einmal staunend vor einem Fenster. Ein Gedanke, der mich nicht wieder los ließ.“
„In diesem Frankfurter Park habe ich öfters übernachtet. Die Figur steht in Niederrad. Sie symbolisiert für mich Zuneigung und Geborgenheit. Etwas, das auf der Straße immer fehlt.“
„Anfang 2009 bin ich in Bremen gelandet. Das erste Bild zeigt etwas Sehnsüchtiges: zwei Menschen, Gemeinsamkeit. Der Hut „hängt“ am Bremer Hauptbahnhof und der kleine Bär befindet sich in den Wallanlagen. Bremen war eine schlimme Zeit. Eine Dame bei der Stadt machte mir die Hölle heiß. Also eine Stimmung der Verlassenheit und Verlorenheit, die ich mit diesen Bildern verbinde.“
Warum ich fotografiere? Jemand hat mir irgendwann eine Kamera in die Hand gedrückt und ich bin losgezogen und hab meine Liebe zur Natur entdeckt.
Ich glaube die Menschen auf der Straße müssen lernen, nicht andere für ihr Schicksal verantwortlich zu machen, sondern ihr Leben mal wieder in die Hand zu nehmen – was vielen durch Alkohol und Drogen nicht mehr möglich ist. Sie haben sich aufgegeben. Wir brauchen mehr menschenwürdige Unterkünfte. Ein Dach über dem Kopf ist der erste Schritt zu einem Neuanfang. Dieses Glück hatte ich in Quickborn. Man gab mir eine Unterkunft und ließ mich in Ruhe. Das war der Anfang für meine positive Veränderung – und ich habe es geschafft, meine Tablettensucht zu besiegen. Später habe ich mich ehrenamtlich betätigt, engagiere mich heute für sozial ausgegrenzte Menschen und habe dadurch Anerkennung gefunden.
„Dieses Foto habe ich 2011 in Ratzeburg gemacht, als ich in der Bundesstraße jobbte. Es zeigt die Steinigung eines Heiligen. Ich habe es nach einem Bibelspruch benannt, der für mich viel bedeutet: ´Wer ohne Fehl und Tadel ist, der werfe den ersten Stein´.“
StrassenBUCH
StrassenBLUES e.V. veröffentlicht Rosis Fotografien, die sie während ihrer Zeit als Obdachlose gemacht hat. Wir kombinieren ihre Bilder mit Alex´ Gedichten. Unterstütze Rosi und Alex mit dem Erwerb ihres StrassenBUCHES.
© Interview: Nikolas Migut | Porträtfoto & Header: Katharina Meßmann | Fotos: Rosi